Vernichten

Die Möglichkeit der Liebe: Michel Houellebecq verdichtet in „Vernichten“ Lust und Last eines Lebens

In seinem an Bomben und Erschütterungen nicht eben armen neuen Roman hat sich Frankreichs beliebtester Skandalautor die größte bis zum Schluss aufgehoben. Am Ende der Danksagungen schreibt er: „Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören.“ Wie bitte? Wer gerne Bücher von hinten her liest, darf natürlich gespannt sein, wie es dazu kommen konnte, nachdem der echte Michel Houellebecq eben erst noch in seinem Cameo-Auftritt des Kinofilms „Online für Anfänger“ ein gebrauchtes Auto kaufte, um sich darin selbst ins Jenseits zu befördern.
Hier jetzt aber die eher aufs Weiterleben ausgerichtete Familiengeschichte des Mittvierzigers Paul Raison, dem im Wahljahr 2027 als Vertrauter des Wirtschaftsministers und eines potenziellen kommenden Präsidenten eine heikle Aufgabe aufgetragen wird. Er soll die Herkunft einer Reihe mysteriöser manipulierter Internetvideos und die Verantwortlichen etlicher Anschläge erforschen, bei denen nicht klar ist, was die Cyber-Terroristen damit erreichen möchten. Nicht weniger undurchsichtig und chaotisch ist Pauls Privatleben: Mit seiner von ihm entfremdeten Frau Prudence teilt er nicht einmal mehr im Kühlschrank ein gemeinsames Fach. Als ein Schlaganfall seinen Vater lähmt, gerät sein wackeliges Lebenskonstrukt in der Auseinandersetzung mit seinen Geschwistern vollends aus den Fugen – und wird ausgerechnet am Ort seines Aufwachsens auf ein neues Fundament gestellt.
Eigentlich ist es ein mit den so typisch houellebecq’schen Überlegungen angereicherter Familienroman, den der französische Schwarzmaler mit einem gerüttelten Maß an Bedrohung von ungewissen Kräften angereichert hat. In seiner in der nahen Zukunft politisch und gesellschaftlich völlig unübersichtlich geworden Welt lässt er seine Hauptfigur über dessen mitten im Wahlkampf steckenden Chef etwas sagen, das für den Autor selbst gelten kann: „Aus der angeblichen Kälte ist Seriosität geworden, die Distanziertheit ist jetzt Weitblick und die Gleichgültigkeit Besonnenheit.“ Denn so nihilistisch er nach wie vor in seiner Weltsicht ist, wie weitschweifig und detailverliebt er sich in seinem bislang umfangreichsten Buch in entlegenste Wissensgebieten verliert, so elegant zurrt er die Fäden in seinem vielleicht ja wirklich letzten Roman zu etwas zusammen, das nicht ohne Hoffnung ist. Und sogar die Aussicht auf Zärtlichkeit weckt. Dass es dabei mit Paul dennoch schrecklich zu Ende geht, ist klar. Aber mit einer Schrecklichkeit voller Liebe.
Großartiger Abgang eines Zynikers

Vernichten
Michel Houellebecq
aus dem Französischen von Stephan Kleiner und Bernd Wilczek
624 Seiten
Dumont, 28 Euro, eBook 24,99 Euro


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