Schleudertrauma und schimpfende Feen
Der Mann, den man unter dem Pseudonym Rafi k Schami kennt, wurde 1946 in Damaskus, Syrien geboren. 1971 flüchtete er von dort nach Deutschland, studierte Chemie und legte 1979 seine Promotion ab, widmete sich aber schon bald hauptberuflich dem Schreiben. Heute lebt er in Marnheim (Pfalz) und zählt zu den bedeutendsten Autoren deutscher Sprache. Sein Werk wurde in 33 Sprachen übersetzt, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und er präsentiert es auf fast einzigartige Weise auf der Bühne: Er liest nämlich nicht aus seinen Büchern vor, sondern erzählt seine Geschichten frei. Wer ihn einmal live erlebt hat, möchte das unbedingt wiederholen. Schön, dass er im Mai bei uns in der Region gastiert und sich im Vorfeld sogar noch Zeit für unsere Fragen genommen hat.
Rafik Schami: Es war eine neue negative Erfahrung, die ich bisher nicht erlebt habe. Die Pandemie erwischte mich auf meiner Tournee im Frühjahr 2020 und ich musste sie unterbrechen. Ich musste täglich damit leben, dass bald kein Erzählabend mehr möglich war. Das Allerschlimmste war die Unsicherheit, ob das jemals möglich werden würde.
RS: Auch da wirkte die Einschränkung sehr negativ. Nur ein Beispiel von vielen: Meine Frau und ich haben jahrelang zu Silvester „Haus der offenen Tür“ praktiziert, über zwanzig Freunde und Nachbarn trafen sich bei uns. Nun durften wir nicht mehr. Da und dort habe ich mehr am Haus oder in meiner Bibliothek etwas ausgebessert, aber das waren nur einige Tage. Aber die wichtigste Arbeit war für mich eine neue, sehr schöne Erfahrung. Ich habe meiner Frau Root Leeb assistiert bei ihrem großen Kunstprojekt, dem „Schneemann“ (https://www.rootleeb. de/schneemann.html).
RS: In der Tat schrieb und recherchierte ich viel besser, denn das hat mich getröstet und für eine Zeit auch die Miesere unserer Welt vergessen lassen. Ich hatte ca. vier Jahre für die Ausformulierung meines neuen Romans eingerechnet. Nur konnte ich ihn in zweieinhalb Jahren beenden. Er erscheint diesen Herbst im Hanser Verlag.
RS: Nein, es gibt keine Alternative zum direkten Live-Erzählen. Natürlich kann ich einzelne Grüße, eine Kurzgeschichte zur Eröff nung einer Buchmesse, oder zur Unterstützung des lokalen Buchhandels am Wohnort online versenden, aber das ist nicht dasselbe.
RS: Ja. Das habe ich als Jugendlicher gelernt, dass man am besten erzählen kann, wenn man eine Geschichte oder einen Roman nicht auswendig lernt, sondern verinnerlicht. Auswendiglernen birgt die Gefahr eines Blackouts. Verinnerlichung eines Textes braucht ein sehr gutes Gedächtnis, Geduld und Hartnäckigkeit. Man liest den Text sehr oft und speichert ihn als Film im Gedächtnis ein, und dann schreibt man einen roten Faden über die Stationen dieses Filmes auf. Man kann am Anfang diesen roten Faden oft zur Rate ziehen, und nach mehreren Auftritten kann man auch ohne ihn spielerisch den Film im Gedächtnis mündlich erzählen und es schadet dem Verlauf nicht, zwischendurch mit dem Publikum zu sprechen oder zu scherzen. Das gehört dazu. Bei meiner Arbeit wiederhole ich ohnehin das Schreiben eines Romans sechs- bis zehnmal. Da habe ich am Ende schon den Film parat. Aus Respekt vor dem Publikum bereite ich jeden Auftritt im Hotel vor, bevor ich zur Veranstaltung gehe, und schreibe dabei die Schwachpunkte auf, und beim Aufschreiben werden sie nicht mehr schwach im Gedächtnis. Mögen einige das zu viel finden. Für mich ist der Respekt vor dem Publikum die erste Voraussetzung fürs Gelingen eines Erzählabends.
RS: Ja, Themen, bei denen ich keine Ahnung habe, und das übe ich täglich gegen die Eitelkeit. Die Talkshows produzieren solche ahnungslosen Experten.
RS: Ja, aber ich habe abgelehnt. Aber um etwas darüber zu lachen, was Bekanntheit mit sich bringt: Eine Bank hat mir einmal, weiß der Teufel (oder die Werbeabteilung) warum, angeboten, in ihrem Vorstand mitzuwirken. Ich habe eine Bedingung gestellt, dass ich dafür den Schlüssel zum Tresor bekomme. Sie meldeten sich nie wieder.
RS: Ich sammle immer wieder Gedanken und Erlebnisse in einem Heft, später übertrage ich sie in den Laptop und schon reduziert sich die Zahl, weil manche von ihnen aus der Ferne sehr blass wirken. All diese Ideen können zu einem Teil einer Erzählung oder eines Romans werden, aber das Thema muss von mir kommen, es drängelt sich und lärmt in mir, dass es notwendig ist. Aber auch das ist noch keine Garantie, dass daraus ein gutes Buch wird.
RS: Wolfgang Niess war einer der ersten, die meine Literatur anerkannten. Und dies nicht nur bei einem Werk, sondern bis heute, bei jeder neuen Erscheinung. Er ist off en, gründlich wie der gute Historiker, der er ist, und sehr raffiniert beim Tarnen der Schärfe seiner Fragen und Haltung durch ein freundliches, fast jesuitisches Lächeln. Ich fühle eine sonderbare Freude, wenn ich mit ihm diskutiere und bereite mich teuflisch gut auf Fragen vor, mit denen ich rechne – obwohl ich da auch oft daneben liege.
RS: Es bleibt mein Lieblingswort, weil es auch optisch ein Genuss ist. Für einen Mensch aus den arabischen Ländern ein Traum: Bäume mit Zuckerguss.
RS: Ich wusste es nicht. Eine liebe Freundin im Verlag hat nachgeschaut: Mehr als 1.960.000 Exemplare wurden bis Anfang des Jahres 2023 verkauft.
RS: Ich bewundere Emil seit seinem jungen Alter. Er ist Literaturwissenschaftler und angesehener
Lektor und er schreibt Erzählungen und Romane in einem ihm eigenen modernen Stil. Der Name Emil war uns sehr sympathisch. Damals suchten wir einen Namen, der in beiden Kulturkreisen, dem arabischen wie dem deutschen, ohne Problemen ausgesprochen werden kann. Zu der Zeit galt „Emil“ als altmodisch, erst nach dem Film „Die fabelhafte Welt der Amelie“ boomten alle Variationen (Amelie Amalia, Emilie, Emil etc.).
RS: Wir beide mochten Erich Kästner und Emil Steinberger, den sympathischen Schweizer Komiker.
RS: Es kam nicht zur Gerichtsverhandlung. Der Beamte im Kreisverband, der die Anzeige bearbeiten musste, besuchte mich. Er war sehr sympathisch. Ich sagte ihm, dass ich nicht bereit wäre, die Farben zu verändern, nur weil ein paar Leute mich insgeheim angezeigt hatten und dass ich es auf eine Gerichtverhandlung ankommen lassen würde. Der Beamte war sehr verständig und erklärte mir – und das ist auf eine liebenswerte Art auch sehr deutsch –, dass er extra durch den Ort gefahren ist, um zu prüfen, ob es noch andere Häuser gäbe, die bunte Fassaden und Türen hatten. Die gab es und so ist die Fassade unseres Hauses bis heute blau-weiß geblieben.
RS: Oh, wenn ich nicht so viel zu tun hätte, würde ich vom dauernden Kopfschütteln ein Schleudertrauma bekommen.
RS: Was heißt hier „Stellen Sie sich vor?“ Ich bin im Pfälzer Wald am 23.6.2016 einer jungen Fee
begegnet, und sie fragte mit sanfter Stimme, ob ich zu meinem siebzigsten Geburtstag drei Wünschen hätte, die sie mir erfüllen würde. Ich antwortete auch sehr freundlich:
1. Dass kein Kind mehr auf der Welt an Hunger stirbt.
2. Dass die Araber und Juden wieder in Frieden zusammenleben.
3. Dass Politiker nicht mehr lügen.
Sie schüttelte nur den Kopf und flog davon, darüber schimpfend, dass die Leute heute aber auch nur unrealistische Vorstellungen davon haben, was eine einfache Fee erfüllen kann.
Gewinnspiel
Mitmachen und Rafik Schami live erleben!
Wir verlosen 3 x 2 Tickets für den Erzählabend mit Rafik Schami am 24. Mai im Lokschuppen in Heidenheim. Schreibt uns einfach bis 19. Mai eine Mail mit eurer Adresse an aalen [bei] xaver [punkt] de mit dem Betreff „Rafik Schami“!
Keine Bargeldauszahlung des Gewinns. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Gewinner werden per E-Mail informiert.
Werke der letzten Jahre:
2017 „Ich wollte nur Geschichten erzählen. Mosaik der Fremde.“
2017 „Sami und der Wunsch nach Freiheit“
2018 „Flucht aus Syrien – neue Heimat Deutschland?“
2018 „Eine Hand voller Sterne“
2019 „Die geheime Mission des Kardinals“
2021 „Mein Sternzeichen ist der Regenbogen. Erzählungen
Termine
22.05. Wiesbaden, Kunstverein Walkmühle
23.05. Karlsruhe, P8
24.05. Heidenheim, Lokschuppen
[Text: Tom, Foto: Arne Wesenberg]