ScherbenErben: Ton Steine Scherben

Anfang der 70er Jahre gegründet waren Ton Steine Scherben wohl lange die radikalste und politischste Band Deutschlands. Eng mit der linken Protestbewegung verbunden, spielten sie anfangs oft in besetzten Häusern und ihr charismatischer Sänger Rio Reiser (gebürtig Ralph Christian Möbius) war und ist vielleicht sogar bis heute Idol und Identifikations-Figur für ungezählte Andersdenkende. 1975 siedelte die Band aus dem politisch brodelnden Berlin ins nordfriesische Fresenhagen und gründete dort eine Landkommune. Circa zehn Jahre später ging die Band frustriert, desillusioniert und hoch verschuldet auseinander. Rio Reiser wurde anschließend „König von Deutschland“ und irgendwie auch Popstar, starb aber leider schon 1996 mit gerade mal 46 Jahren.
Nach seinem Tod 1996 taten sich einige seiner Weggefährten als Ton Steine Scherben Family zusammen und spielten sogar Konzerte. In diesem Jahr musste Fresenhagen dann verkauft werden, und Reiser, der dort begraben lag, wurde nach Kreuzberg umgebettet. Reisers Erben und die anderen Bandmitglieder verstrickten sich lang in scheinbar endlose juristische Streitereien um die Rechte an den Songs. In der Folge waren die Scherben-Platten auch jahrelang nicht mehr im Handel erhältlich. Im Frühjahr 2014 stieß dann auch der Ur-Gitarrist Lanrue wieder zur Family und die Band ging endlich wieder unter dem Ton Steine Scherben-Banner auf Tour. Es ist frappierend wie relevant und aktuell ihre Songs auch 40 Jahre nach der ersten Veröffentlichung heute noch sind. Die Rotzigkeit der Texte gepaart mit der enormen Intelligenz sind bis heute unerreicht und haben nicht umsonst viele Bands beeinflusst. Deutscher Punk, Teile der Neuen Deutschen Welle und auch viele erfolgreiche Rock-Acts sind ohne sie undenkbar. Scherben-Bassist und -Mitbegründer Kai Sichtermann gab uns im Vorfeld der Show in Stuttgart ein paar Antworten.

XAVER: Hallo Kai, ich hoffe die Probe gestern ist gut gelaufen. Der legendäre Band-Bauernhof in Fresenhagen wurde vor Jahren verkauft. Wo probt Ihr denn heute?

Kai Sichtermann: In Kreuzberg.

X: Nach der ersten Ladung Liveshows im letzten Frühjahr geht es im Januar 2015 erneut auf Tour. Wie waren denn die Reaktionen bei den Konzerten?

KS: Gut.

X: Ihr wart Punk, bevor es den Begriff in Deutschland überhaupt gab. Was verbindet Euch oder Dich heute mit dem Begriff Punk?

KS: Wir waren eigentlich nicht wirklich punkig. Unsere Musik hat aber punkig geklungen, weil unsere Produktionsmittel damals bescheiden waren.

X: Ihr habt den Soundtrack zur linken Bewegung geliefert, wart und seid eine politische Band. War das immer ein demokratisches Agieren in der Band? Oder gab es einen Tonangeber, der die Richtung vorgab?

KS: Wir waren und sind eine musikalische Einheit. Allerdings gab und gibt es hin und wieder auch jemand, der mal das Steuer in die Hand nimmt.

X: 1985 habt Ihr Euch aufgelöst, was wohl auch stark mit finanziellen Problemen zu tun hatte. Damals war Claudia Roth schon ein paar Jahre Eure Managerin. Ihr hattet also jemand, der sich um die geschäftlichen Aspekte kümmert, hattet Kult-Status und trotzdem ging es finanziell in die Binsen? Woran lag das?

KS: Wir waren Musiker und konnten mit Kohle nicht umgehen, haben schlecht gewirtschaftet.

X: Jahrelang haben sich die verschiedenen Parteien in und um die Band mehr mit Rechts- und Lizenzstreitereien als mit gemeinsamer Musik beschäftigt. Sind die juristischen Streitereien mittlerweile beigelegt?

KS: Ja, endlich. Nach sieben Jahren dürfen nun wieder Ton Steine Scherben-Tonträger verkauft werden.

X: Nach dem Wegzug aus Berlin nach Fresenhagen habt Ihr Euch dann nicht mehr so vordergründig mit Politik beschäftigt. War das auch ein Stück weit Flucht, weil Ihr in Berlin immer unter Beobachtung wart?

KS: Der Wegzug war schon ein Stück weit Flucht, die Beschäftigung mit anderen Themenbereichen war uns ein Bedürfnis.

X: Ganze Heerscharen an Bands berufen sich auf Euch als Vorbilder. Verfolgst Du die aktuelle deutsche Musikszene und hast Du Favoriten?

KS: Tut mir leid, aber da muss ich passen.

X: Hunderte haben sich an Coverversionen von Euch versucht, u.a. auch so megaprominente Bands wie Die Toten Hosen oder Wir sind Helden …

KS: Ja, schön.

X: Fast 30 Jahre nach der Auflösung habt Ihr Euch 2014 wieder auf die Bühne gestellt. Wie kam es dazu?

KS: Schon 2004 haben wir uns als Ton Steine Scherben-Family zusammengefunden und sind sogar getourt. Allerdings ohne unseren Gitarristen Lanrue. Jetzt ist Lanrue wieder mit an Bord und es macht sehr viel Freude, Musik live zu spielen. Die Zeit war einfach reif.

X: Für manche ist das fast schon Frevel, weil Ton Steine Scherben ohne den verstorbenen Rio Reiser für sie unvorstellbar ist. Ich nehme an, das wurde innerhalb der Band ausführlich diskutiert. Bei den Konzerten arbeitet Ihr heute mit zwei Stimmen: Nicolo Rovera und Ella Josephine Ebsen. Ella ist die Tochter Eures Gitarristen, aber wie kam der 19-jährige Rovera ins Boot?

KS: Rio ist natürlich in bestimmtem Sinne unersetzlich. Doch wie heißt es so schön? The Show must go on! Nicolo Rovera kannten wir aus der Ufa, ein ehemaliges Film-Produktionsgelände, das besetzt wurde und heute ein Kulturzentrum ist.

X: Bei den 2014er-Shows hattet Ihr auch immer wieder Gäste bei den Shows. Welche hast Du besonders in Erinnerung behalten?

KS: Ach das waren so viele und auch so verschiedene (u.a. Madsen und Blumentopf, Anmerk. d. Verf.), und alle Gäste waren super!

X: Ist für Stuttgart am 16. Januar auch ein Gastauftritt geplant?

KS: Das ist noch ungewiss - eventuell.

X: Ihr spielt auch in Österreich und der Schweiz. Ist das ein anderes Publikum? Merkt Ihr bei den Shows, dass das andere Länder sind?

KS: Wenn ich auf der Bühne stehe, merke ich es nicht.

X: Euer legendäres Debütalbum „Keine Macht für Niemand“ wurde fast in einer Nacht- und Nebelaktion an gerade mal einem Wochenende eingespielt - da brauchen Bands heute gerne mal so lange um nur das Schlagzeug zu mikrofonieren. Mit dem Sound bist Du nicht so ganz glücklich, oder?

KS: Doch, das ist schon okay, wenn man bedenkt, dass das Album vor 40 Jahren aufgenommen wurde. Heute hätte ich in der Tat andere Ansprüche.

X: Die Aufnahmen wurden für ein legendäres Fußballspiel unterbrochen. Was hast Du heute noch besser in Erinnerung, die Aufnahmen oder das Wembley-Spiel?

KS: Auch wenn das Spiel legendär war, die Erinnerungen an die Aufnahmen sind einzigartig und überwiegen.

X: Bist Du heute noch Fußball-Fan? Bedeutet Dir der aktuelle Weltmeister-Titel etwas?

KS: Ein spannendes Fußballspiel schaue ich mir immer gerne an.

X: Unter dem Namen „Scherben bringen Glück - Die Rio Reiser Fahrt“ gibt es ab und an ganz besondere Unplugged-Konzerte auf dem Schiff mit Euch. Wie seid Ihr auf die Idee gekommen?

KS: Funky, unser Drummer hat diese Idee zusammen mit Sema Binia von der Berliner Geschichtswerkstatt entwickelt. Jedes Jahr zum Todestag von Rio spielen wir auf einem Dampfer, der auf Spree und Landwehrkanal entlang fährt. Das ist eine sehr schöne Alternative zu lauten Rockkonzerten.

X: Weihnachten steht vor der Tür. Wie feierst Du das Fest?

KS: Klassisch, im engen Familienkreis mit gutem Essen und brennendem Tannenbaum. Allerdings versuche ich dabei auch den spirituellen Aspekt nicht aus den Augen zu verlieren, die Geburt des Lichtes zur Wintersonnenwende.

X: Zum Abschluss die Frage nach der Zukunft: Was bringt das neue Jahr für Dich und Ton, Steine, Scherben? Gibt es vielleicht sogar ein neues Album?

KS: Ach, ich lass mich da überraschen. An ein neues Ton Steine Scherben-Album glaube ich nicht mehr.


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