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Heinz Strunk zelebriert in „Ein Sommer in Niendorf“ wieder mal den Absturz

Die Richtung stimmt schon mal: Vom geographischen Norden (Niendorf am Timmendorfer Strand) ins soziale Erdgeschoss (Absturzkneipen, Alkoholikerdasein) führt Heinz Strunk seine Hauptfigur in einer neuen Variation seines Lieblingsthemas: Abstieg, Verwahrlosung, Kaputtgehen. Roth heißt sein neuer Antiheld. Ein Jurist, der während einer dreimonatigen Auszeit die Interviews (44 Tonbänder à 90 Minuten Laufzeit) mit seinem Vater transkribieren und daraus seine Familiengeschichte destillieren möchte. Allein: der große Elan der ersten Tage verfliegt schnell, aus dem distinguierten Mann, der sich rühmt, noch nie einen Döner gegessen zu haben, wird nach und nach eine heruntergekommene Kreatur nach dem Vorbild des unwahrscheinlichsten aller Mentoren: des distanzlosen Hausverwalters, Spirituosenhändlers und Strandkorbvermieters Breda, der sich für Roth vom aufdringlichen Ärgernis zum Ankerpunkt des täglichen Lebens entwickelt - und Bier mit Aquavit zum Hauptbestandteil der Flüssigkeitsaufnahme. Das Spektakel dieses Romans ist einerseits der wohlbekannte Strunk-Sound: dieser dokumentarisch wirkende Einblick Abstiegs- Milieus, runtergerockte Kneipengespräche, grob-brutale Schilderungen von düsterster Zerrüttung und Aussichtslosigkeit. Andererseits diese allmähliche Metamorphose eines distinguierten Mannes in eine Form hinein, die er anfangs verabscheut, aber doch vielleicht in ihm schon immer angelegt war. Denn die vom Verlag angeführte Parallele zu Thomas Manns „Tod in Venedig“ lässt sich durch dessen „Zauberberg“ erweitern. Wie ein Mischwesen aus schroffen Versionen der Thoma-Mann-Charaktere Gustav von Aschenbach und Hans Castorp führt für Roth der Weg zu einer unwahrscheinlichen Verwandlung. So viel sei verraten: Vielleicht sogar zum Guten. Auch wenn das vielleicht nicht jedermanns Geschmack ist.
→ Nordsee-Verwandlung

Ein Sommer in
Niendorf
Heinz Strunk
240 Seiten
Rowohlt,
22 €, eBook 17,99 €


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