Engin: Nacht-Tour 2023

11.06., Ulm, Roxy

ENGIN schaut hin. Und zwar schmerzhaft genau und kritisch, mit einem lakonischen Augenzwinkern. Inspiriert von der vibrierenden Metropole Istanbul und aufgewachsen in der badischen Provinz verbinden der 28-jährige Wahl-Mannheimer Engin Devekiran und seine Band Indie-Rock mit
traditionell türkischen und psychedelischen Elementen.

ENGIN und seine Band zeigen, dass türkische Musik ihren festen Platz in der deutschen Musiklandschaft verdient. Die Songs handeln von Einsamkeit und Konsum, Liebe und gesellschaftliche Missstände, menschlichen Stärken und Schwächen sowie Identitätssuche. Dabei liegt der Finger stets in der Wunde - egal ob die eigene oder eine fremde. ENGINs Musik ist immerzu tanzbar, lässt es aber gleichzeitig dem einen oder anderen auch mal eiskalt den Rücken herunter laufen - ganz abhängig davon, wie intensiv man den starken Texten lauscht.

ENGIN – Das Debütalbum „Nacht“

In der Nacht liegt die Essenz unseres Lebens. Raus in die Welt. Andere erkennen und sich selbst verlieren. Die Straße, der Kiosk, die Party sind stete Versprechen auf Verwandlung. Die Mannheimer Band ENGIN zieht uns auf ihrem Debütalbum „Nacht“ hinein in die Stunden zwischen Nachmittag und nächstem Morgen. Vom Bett in die Bar. Vom Rausch in die Tiefe. Und zwischen glitzerndem Dreck eine Ahnung von Liebe.

Dieses energetische Trio liefert in seinen zehn Songs eine grandiose Lebensgefühlverdichtung. Und das in einem detailverliebten wie hoch eingängigen Sound, der sich gut und gerne als deutsch-türkischer Indierock bezeichnen lässt. Und der Pop, Jazz und Psychedelia äußerst klug und mit großer Geste umarmt. Roh, hypnotisch und immer wieder tanzbar erzählt ENGIN von all dem, was die Nacht offenbart. Schönheit und Schmutz, Irrwitz und Abenteuer, Einsamkeit und Euphorie.

„Und die Typen, die nicht weinen / mutig blau / aufgespritzte Lippen, fremde Frau / im Spiegel ein Gesicht: bin ich‘s, bin ich‘s nicht“, singt Gitarrist und Sänger Engin Devekiran im orientalisch groovenden „Echt“. Eine Bar-Beobachtung. Während sich der Blick alkoholgetränkt verklärt und poetisch weitet. Wann sind die Leute echt – im Alltag oder beim Ausgehen? Welche Rollen spielen wir? Und als was stelle ich mich dar? Cool und kunstvoll verknappt lotet Engin seine Identität aus. Und die der anderen. Ein paar Worte, schon gehen die Fenster sperrangelweit auf. Und wie die Band diese lässigen literarischen Skizzen mit Musik auflädt, ist hochgradig aufregend. Driftende Psychedelia und fuzzy Gitarren, verschachtelte Rhythmik und leichtfüßiger Vibe, der Gesang dringlich und mit viel Seele. Songs, in denen das Leben auch manchmal schal schmeckt, aber meistens bitter, süß und scharf. Die Sinne pulsieren. Ganz so wie in der betörenden Hedonismus-Hymne „Hayvan“: „Die Nacht glänzt glatt rasiert in Neonfarben / mein Leben Baklava in 1000 Lagen“.

Der Sound der Band speist sich aus Freundschaft. Und aus der Familiengeschichte von Engin Devekiran. Mit Schlagzeuger Jonas Stiegler spielte er bereits seit der fünften Klasse zusammen in Bands. Bis Jonas an die Jazz-Hochschule in Mannheim ging, während Engin erst Psychologie studierte und dann an der Popakademie seinen Traum vom Musikmachen verfolgte. Dort lernte er Bassist David Knevels kennen. Und als Trio sind sie nun davon angetrieben, mit großer Neugierde unterschiedliche Einflüsse zu ihrem ganz eigenen Stil zu verbinden. Befeuert von den musikalischen Erkundungen, die Engin Devekiran während der Pandemie anstellte: „2020 habe ich begonnen, mich stärker mit meinen türkischen Wurzeln zu befassen. Mein Vater war in den 1960ern als Gastarbeiterkind nach Deutschland gekommen. Mein Türkisch wiederum hat einen deutschen Akzent. Ich habe mich gefragt: Wo gehöre ich überhaupt hin?“
Antworten fand er gemeinsam mit seiner Band im kulturellen Reichtum zwischen den Welten. Etwa im Anadolu Rock der 70er. In den einfallsreichen Fusionen von Größen wie Barış Manço und Cem Karaca. Aber auch eine aufrichtige popkulturelle Liebe von Pink Floyd über Altın Gün bis zu The War On Drugs
ist überdeutlich zu spüren.

„Die Musik muss gut schwingen, mit einer guten Emotion. Dann lassen sich auch neue Hörgewohnheiten
etablieren“, erklärt Jonas. Und besonders eindrücklich ist diese Energie live zu erleben: Die Melodien, die Hooks, die Internationalität funktionieren von Stuttgart bis Verdun, vom milchgesichtigen Hipster bis zum älteren türkischen Typen, der auf einmal ekstatisch zu tanzen beginnt. „Es geht um Unbekümmert-heit. Darum, lockerer mit etwas umzugehen, das einem nicht sofort vertraut ist“, sagt David. Besonders intensiv erinnert er sich an ein ENGIN-Konzert im Güneş Theater in Frankfurt. „Das Publikum hatte sofort einen Zugang zu unserer Musik. Da lag ein Knistern in der Luft.‟

Aufgenommen hat die Band ihr Konzeptalbum mit Produzent Robert Stephenson (Mighty Oaks, Milliarden) in Berlin – inklusive Stunden voller Eierlikör und unbedingter Offenheit. „Es war sehr viel Liebe im Raum. So wie wir miteinander Musik machen, darf es keine Angst vor Verletzungen geben“, erklärt Jonas. Um die kollektive Dynamik von ENGIN einzufangen, wurden alle Songs vor dem Feinschliff zu dritt in einem Raum eingespielt. Und zu der besonderen Chemie der Band zählt ebenfalls, dass zu jedem der zehn Songs in schönster DIY-Attitüde ein Video entsteht. Vom experimentellen Schattenspiel bis zur ziellosen Autofahrt.

Das Debütalbum von ENGIN ist eine Collage verschiedener nächtlicher Stimmungen und Situationen, die
noch am Tag beginnt. Bei der Überlegung, überhaupt vor die Tür zu gehen. Den Titel des Openers, das
beschwichtigende „Alles wird gut“, konterkariert Engin mit türkischen Lyrics, in denen er von einer Depression erzählt. Mit Berlin als abgefucktem Moloch. Und im Innern ein schwarzes Loch.
Doch „Nacht“ führt uns auch immer wieder zu Orten, die wärmen. In „Kiosk Yüksel‟ huldigt ENGIN mit akzentuiertem Drive einem leuchtenden Kleinod inmitten des Gentrifizierungsturbos. „Solche Orte sind enorm wichtig für den nächtlichen sozialen Frieden“, erklärt Engin.

In „Dönermann“ feiert die Band mit fiebrigem Funk eine weitere solche Station, an der alle nokturnen Gestalten stranden können. „Die Nacht ist gut am Laufen / Marie muss wieder kotzen / seit ein paar Stunden ballert Tarkan Abi aus den Boxen / wir stehen Schlange für 'nen letzten großen Biss ins Glück“, besingt ENGIN den fortschreitenden Sog der Nacht. Bis im dunkel brodelnden „Hayan‟ das eigene kleine Leben mal völlig von der Kette gelassen wird. „Oh wie schön, die Welt geht steil / für ein paar Stunden Seelenheil“ Ein Song zwischen Versuchung und Sozialkritik.

Doch jeder noch so fulminante Rausch droht mit dem „Morgengrauen‟ zu kippen. Bricht die Desillusion so harsch herein, dass die eigenen Dämonen gewinnen? Oder wartet am Ende der Party zwischen Scherben und Alkoholdunst doch noch dieses ganz grundsätzlich gute Gefühl von Geborgenheit? In „Konfettiregen“ schwelgt ein Saxofon als purer Pop dieser Hoffnung entgegen.

Und „Stillgelegte Tränen ‟ mit seinem luftigen Handclap- und Soul-Charme ist ein Hoch darauf, den nächsten Tag zu zweit im Bett zu verbringen. Am Ende wird bei ENGIN also womöglich tatsächlich: alles gut. Aber ohne den rauen Glanz der Nacht, ohne die hochtourige Glückseligkeit, den drohenden Absturz und all die verschwommenen Erkenntnisse wäre dieses lichte Happyend nur halb so schön.

Support: Gobilove

Gobilove – Vier Jungs, die die Musik der 70er Jahre ins Hier und Jetzt geholt haben. Die ausdrucksstarke Stimme des Sängers dürfte einigen noch aus seiner Singer-Songwriter-Zeit als Finn Nelé bekannt sein. Dieser hat sich vor einem Jahr mit den Jungs von der 60s-Psychedelic Rock Band rainbowhead
zusammengetan, um musikalisch neue Wege zu gehen. Herausgekommen ist ein Mix aus verspielten psychodelischen Gitarrensounds, folkigen Elementen, tanzbaren Hymnen und mehrstimmigen Gesängen, die unter die Haut gehen.




Veranstalter: ROXY gemeinnützige GmbH in Kooperation mit der popbastion ulm / Tickets VVK 14,20 / AK 17,—


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