Auf der Sonnenseite: Eric Gauthier

Vielleicht war die Vorstellung, dass der Zeitplan, der diesem Interview-Termin zu Grunde lag, tatsächlich eingehalten werden kann, einfach zu entrückt von der tatsächlichen (Verkehrs-) Lage auf dieser Welt. Egal - zugesagt hatten wir trotzdem. Mit SOKO-Praktikantin Isabelle im Gepäck, habe ich mich also sehr rechtzeitig auf den Weg nach Esslingen gemacht, um dort, in den Redaktionsräumen der Stuttgarter Zeitung im Palmschen Bau, unseren Interviewpartner Eric Gauthier zu treffen. Der steckte allerdings im Stau und drei Telefonate später war dann auch irgendwann absehbar, dass er geradeso pünktlich zu seinem gleich anschließenden Termin bei der Reihe „StZ im Gespräch in Esslingen“ eintreffen würde. Der ursprüngliche Plan wurde also kurzerhand umgekrempelt und wir mischten uns einfach unter die glücklichen Zeitungsleser, die Karten für diese Gesprächsrunde gewonnen hatten. Am Ende hatte das, was wir in den darauffolgenden anderthalb Stunden erleben durften, größten Unterhaltungswert! Büroleiter Frank Holoch stellte durchweg pfiffige Fragen, die von einem bestens gelaunten Eric Gauthier ebenso ehrlich wie akrobatisch beantwortet wurden. Am Ende griff das Multitalent Gauthier dann sogar noch zur Gitarre und hinterließ damit ein endgültig begeistertes Publikum. Es muss an dieser Stelle noch erwähnt werden, dass es in diesem Fall wirklich schade ist, dass es sich beim XAVER um ein Printmedium handelt, denn leider kann man den eigentümlichen Akzent-Mix mit englischen, französischen und schwäbischen Einflüssen, der wahrscheinlich nicht unwesentlich zur Beliebtheit des Ballettstars beiträgt, kaum aufs Papier bringen. Das nun folgende Interview ist ein Auszug aus der Gesprächsrunde.
Wer jetzt denkt „Eric wer?“, der sollte sich noch die folgenden Zeilen durchlesen:
Eric Gauthier ist ein kanadischer Tänzer und Choreograf, der 1996 nach Deutschland kam und Teil der Stuttgarter Ballett-Compagnie wurde. Hier mauserte er sich zum Solotänzer, vor allem aber auch zum charismatischen Publikumsliebling. Inzwischen ist der 40-Jährige Chef seiner eigenen Truppe, der Gauthier Dance Company am Theaterhaus Stuttgart, die in diesem Jahr ihr 10-jähriges Bestehen feiert. Außerdem ist der international gefragte Choreograf künstlerischer Leiter des Colours International Dance Festival. Eric Gauthier - ein Mensch in Bewegung!

XAVER: Lieber Eric, wie verrückt muss ein Mensch denn eigentlich sein, um Tänzer zu werden?

Eric Gauthier: Ganz! Das ist schon ein ganz besonderes Leben! Man wird Profi ab 18 Jahren ungefähr, nach der Ballett-Schule, und mit 30 ist das alles vorbei - mit ganz viel Glück mit 35. Das ist auch bei meiner eigenen Truppe so: Wenn jemand vorbei kommt und sich vorstellt und wirklich richtig gut ist, aber schon 32 oder 33 Jahre alt ist, dann kann ich denjenigen nicht aufnehmen. Diese Arbeit geht auf die Knochen, auf den Rücken, auf die Knie. Die zwölf bis 15 Jahre auf der Bühne sind allerdings traumhaft! Man bereist die ganze Welt, man erlebt unglaubliche Momente...
X: Wann hast du gemerkt, dass du verrückt nach tanzen bist?

EG: Ich war ein ganz normaler Junge. Ich bin aus Kanada, aus Montreal. Und bis ich neun Jahre alt war, wollte ich, wie alle Jungs in Kanada, Hockeyspieler werden. Hockey ist wie Fußball hier, alle sind verrückt danach. Und dann haben mich meine Eltern ins Musical „Cats“ mitgenommen. Und direkt nach dieser Vorstellung habe ich mich umgedreht zu meiner Mutti und gesagt: Das muss ich machen, das will ich machen. Und dann hat sie gesagt: Okay, du singst gern und du spielst ein bisschen Klavier, aber du musst lernen zu tanzen, weil diese Katzen, die tanzen die ganze Zeit während sie singen. Eine Woche später stand ich also in meinem ersten Balletttraining. Ein Jahr später war ich schon in Toronto - ungefähr sechs Stunden entfernt von meinem Zuhause, weil dort die größte Ballettschule Kanadas war und meine Balletttrainerin in Montreal erkannt hat, dass ich Talent habe.
X: ’96, da warst du 19 Jahre alt und Reid Anderson (A.d.R. Intendant d. Stuttgarter Balletts) hat dich gefragt, ob du mit nach Deutschland kommen möchtest. Was wusstest du von Stuttgart, bevor du hergekommen bist?

Kommentar aus dem Publikum:
Kehrwoche! (alle lachen)
EG: Das hab ich schnell gelernt! Ich wusste nichts davon... Ich kannte das Stuttgarter Ballett, die John Cranko-Schule, weil wir das auch während der Ausbildung behandelt haben im Fach history of art and ballet. Ich wusste, dass es da einen Fernsehturm gibt. Wir hatten auch einen in Toronto. Aber ja, mein erstes Jahr war nicht so einfach. Ich glaube es ist ein ganz anderes Stuttgart jetzt, 22 Jahre später. Ich weiß noch, ich war damals auf der Königsstraße bei einem Bäcker und ich habe zu der Frau dort gesagt - ich konnte ja kein Schwäbisch, kein Deutsch: The sandwich with cheese, please. Und sie hat mich angeschaut und gibt mir das Salami-Sandwich. Und ich glaube, wenn ich das heute nochmal ausprobieren würde, dann würde ich schon the one with cheese kriegen. Ja, ich denke, dass ist langsam schon eine andere Welt.

X: Was macht aus deiner Sicht eigentlich einen guten Choreografen aus?

EG: Wenn ich das wüsste... Nein, ich denke ein guter Choreograf ist einer, der konstant arbeitet. Jemand, der immer gute Arbeit leistet. Und das ist wirklich fast nicht möglich. Das ist wie beim Musik-Schreiben. Man kann nicht immer ein tolles, ein perfektes Lied komponieren. Ich mag deshalb Choreografen, die nicht immer dasselbe machen. Das bringt auch eine Truppe nicht weiter, wenn ständig ähnliche Schrittkombinationen verwendet werden. Ein guter Choreograf ist deshalb wie ein Chamäleon und wechselt ständig die Farbe.
X: Ist es für einen Choreografen gut, wenn er die Tänzer kennt, die das Stück später auf die Bühne bringen?

EG: Ja klar! Mit Blick auf Gauthier Dance ist es auch besonders wichtig zu wissen, was unsere Mission ist. Wir wollen nicht wie die anderen sein. Als ich vor zehn Jahren die Compagnie gegründet habe, musste ich erst mal ein ganz klares Konzept ausarbeiten. Tanztheater war damals sehr düster, sehr schmerzhaft. Auf der Bühne passierten tausende Bewegungen und für die Zuschauer war das oft schwer zugänglich. Deshalb wollte ich mit Gauthier Dance, das klingt jetzt vielleicht banal, so ein bisschen the sunny side of modern dance aufzeigen. Viele haben Angst, etwas Lustiges auf die Bühne zu bringen, weil sie denken, dass es sofort als Comedy-Klatsch abgetan wird. Die Kritiker wussten am Anfang deshalb auch immer nicht, was sie mit meinen Choreos machen sollen. Bei den Vorstellungen sind die Leute aufgestanden, haben geklatscht wie verrückt, liebten das - und auf der anderen Seite waren da die Kritiker, die dachten, das ist nicht ok, das ist nicht richtig. Die haben das dann Popcorn-Ballett genannt, einen Mix zwischen Zirkus und Kabarett und so. Das hat mich sehr verletzt. Heute sagen sie das nicht mehr, einfach weil sie verstanden haben, dass das mein Weg ist und dass das gut funktioniert. Das war tatsächlich eine Lücke in der Tanzwelt.

X: Du bist Tänzer, Choreograf und jetzt auch noch Chef eines mittelständischen Unternehmens irgendwie.

EG: Was ist das? (alle lachen)
X: Ja also du hast Verantwortung für andere Menschen - business. Lastet da ein Druck auf dir? Merkst du das manchmal?

EG: Manchmal - I realize. Wir haben einen Jahresetat von 2,5 Millionen für Gauthier Dance. Das ist viel, viel Geld. Und 26 Mitarbeiter. 26 Menschen, die in Stuttgart leben wegen der Truppe. Niemand kommt aus Stuttgart von der Mannschaft. Actually, ich habe keine deutschen Tänzer, wenn ich ehrlich bin. Nicht weil ich nicht will, sondern weil ich keine finde. Es ist eine Truppe von der ganzen Welt - aus Spanien, Frankreich, Italien, Brasilien, den USA. Eine gute Mischung, it’s beautiful. Aber - to come back to your question - es ist Druck da, ja, aber solange ich meinen Job richtig mache, läuft das alles.
X: So ganz nebenbei hast du ja auch noch das Colours Festival ins Leben gerufen, das 2015 seine Premiere feierte und nun vom 26. bis 27. Juli eine Neuauflage erlebt. Jetzt kommt dein Werbeblock: Warum sollte man da hin gehen?

EG: Es gibt keine Karten mehr! (alle lachen) Nein, nein! Letzte Woche haben wir drei Shows neu ins Programm aufgenommen, sodass wir noch einen Tag mehr anbieten können. Jetzt im Moment (A.d.R. das war am 26.04.) wird es also noch drei- bis viertausend Karten geben. Jede Show ist ausgewählt von einem ganzen Team und die Stücke sind echt super, very beautiful. Und natürlich gibt es wieder ein tolles Rahmenprogramm mit verschiedenen Workshops.

X: Wenn man das jetzt alles so zusammenfasst, was du so machst: Bist du Workaholic?

EG: Ich bin Papa! Ich liebe meine Familie. Wenn ich nach Hause komme, dann weiß ich wieder, warum ich eigentlich da bin. Ich bin immer so beschäftigt, habe viele Ideen im Kopf, muss das machen und das; muss mich auch um die mentale Gesundheit meiner Truppe kümmern. Die sind alle besondere Menschen, Künstler eben. Und als Chef muss ich mich darum kümmern, dass die nicht alle verrückt werden. (lacht) Workaholic auf jeden Fall, ja, aber ich pass gut auf. Ich mache auch Urlaub. Letzte Woche war ich mit meiner Familie im Allgäu. Im Sommer mache ich immer sieben Wochen Pause. Kein Ballett-Chef macht so was. Normal sind fünf Wochen, meine Mannschaft braucht sieben! Und da mache ich dann viel mit der Familie, besuche meine Eltern. Es ist ganz wichtig, dass ich meine Pausen habe.
X: Welche Ansprüche stellst du denn diesbezüglich an andere? Sind die genauso hoch?

EG: Ja - und das wissen auch alle, die mit mir zusammen arbeiten. Man muss immer alles geben. Als Tänzer geht es ja nicht nur darum, sich Schritte zu merken. Man muss vor allem auf sich selbst, den eigenen Körper, das Instrument aufpassen. Für einen Tänzer ist sein Körper wie eine Violine für den Musiker. Tänzer müssen nicht nur dünn sein und gut durchtrainiert, sie müssen sich pflegen, gut schlafen. Aber ich habe da eine disziplinierte Truppe. Beim Stuttgarter Ballett haben wir viel mehr Party gemacht. Meine Tänzer gehen alle nach Hause, die sind langweilig. (alle lachen) Die passen immer auf.
X: Dürfen wir das schreiben?

EG: NEIN! Die sind nicht langweilig! (lacht)

X: Ein bisschen zu kurz kommt für deinen Geschmack wahrscheinlich die Rock-Musik in letzter Zeit, was du ja auch immer sehr intensiv verfolgt hast...

EG: Ich hatte ja den Traum, der neue Mick Jagger zu werden. Mit 26 bin ich deshalb ins Büro von Reid Anderson am Stuttgarter Ballett spaziert und habe gesagt: I quit! I’m moving to London. I’m gonna be a musician. Reid hat mich nur angeguckt und gesagt: Du kommst morgen nochmal zu mir und sagst genau dasselbe - dann kannst du gehen. (alle lachen) Und am nächsten Tag hab ich dann gesagt: Heh, ich will doch bleiben! Ja, es war eben auch ein Traum. Ich liebe es, Musik zu spielen. Es war für mich immer ein großer Ausgleich zur Ballett-Bühne, weil dort muss alles so perfekt sein. Auf der Musik-Bühne stehe ich mit meinen vier Jungs und kann ein Bier trinken auf der Bühne - Wahnsinn! (alle lachen) Auf der Ballett-Bühne kann man nix trinken. Für mich waren das immer zwei Welten und vielleicht hat mich das davor bewahrt, verrückt zu werden.

X: Kommen wir aus Schwabensicht nun noch zu einem sehr ernsten Thema: Du bist im März 40 Jahre alt geworden.

EG: I know.
X: Hat dich im Vorfeld die Zahl 40 irritiert? Was macht 40 mit einem Kanadier? Der Schwabe wird erwachsen...

EG: Ich bin derselbe wie vorher! Keine Ahnung - für mich ist das nur eine Nummer. Es kommt darauf an, wie alt man im Kopf ist und ich glaube ich bin immer noch 30 oder 28. Ich will immer noch die Bühne rocken mit meiner Band. Klar, ich bin in meinem Leben angekommen, ich bin Vater, ich muss mich um meine Familie kümmern. Und das ist ok so.
X: Also keine Midlife-Krise?

EG: Nein - aber vielleicht nach diesem Gespräch hier? (lacht)

X: Schauen wir zum Abschluss noch in die Zukunft: Was wird Eric Gauthier an seinem 60. Geburtstag machen?

EG: Keine Ahnung - aber es gibt noch etwas Tolles in den nächsten Jahren, das hat mir der Oberbürgermeister versprochen. Es soll ein eigenes Tanzhaus für Gauthier Dance entstehen direkt hinter dem Theaterhaus. Das war immer mein Traum, ein Tanzhaus zu bauen, wo Gauthier Dance aber auch die freie Tanz-Szene ein Zuhause findet. Ein ganzes Haus, das vom Tanz lebt! Ich hoffe wirklich, dass das irgendwann Realität wird.


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