Chemielehrer mit Anstand: Sigmar Gabriel

Die Liste der Posten und Ämter, die Sigmar Hartmut Gabriel im Laufe seiner politischen Karriere innehatte, ist lang, aber als SPD-Vorsitzender, Vizekanzler, Wirtschafts- und später auch Außenminister haben wir ihn alle noch in guter Erinnerung. 1959 wurde er in Goslar geboren, wo er bis heute lebt und im September erst zum Ehrenbürger ernannt wurde. Ebenfalls im September ist sein neues Buch erschienen, das er im Januar in Herbrechtingen vorstellt. Und obwohl er nach wie vor einen übervollen Terminkalender hat, gab es tatsächlich die Möglichkeit zu einem interessanten Telefonat. Gabriel wirkt streckenweise etwas müde, erweist sich aber als aufmerksamer, humorvoller und schlagfertiger Gesprächspartner.

XAVER: Herr Gabriel, zum Einstieg: Beschreiben Sie uns doch, wann und wie Ihr Tag normalerweise beginnt.

Sigmar Gabriel: Mein Tag beginnt üblicherweise spätestens um 6 Uhr in der Früh, wenn meine jüngste Tochter Thea sich zu Wort meldet.
X: Praktisch, dann muss man nicht mal einen Wecker stellen.

SG: Genau, mein Wecker hat zwei Beine und eine kräftige Stimme!

X: Bereits mit 15 Jahren haben Sie sich den Falken angeschlossen, einer SPD-nahen Jugendorganisation. In dem Alter interessieren sich die meisten für Party – Sie für Politik. Wie kam es zu diesem frühen Interesse?

SG: Ach, das Schöne bei den Falken war, dass sich Party und Politik nicht ausschlossen. Eines der tollen Angebote der Falken war, dass man für wenig Geld – und wir hatten zu Hause nicht viel Geld – im Sommer zusammen mit ein paar Hundert weiteren Jugendlichen in ein Zeltlager in ein anderes europäisches Land fahren konnte. Das war einfach spannender, als bei den Jungsozialisten große Theorien zu schmieden.
X: Klingt klasse! Welche Länder haben Sie denn da besucht?

SG: Das waren einige: Frankreich, Italien, Schweden, die Niederlande, Polen, Österreich und Norwegen.

X: Können Sie sich noch an Ihren Berufswunsch im Kindesalter erinnern?

SG: Chemielehrer.
X: Sie haben sich als Kind gewünscht, Chemielehrer zu werden?

SG: Na ja, als Kind wohl noch nicht, aber als Heranwachsender hat mich das sehr interessiert. Wie jeder Junge in meinem Alter hatte ich natürlich einen Chemiebaukasten. Ich war ja Realschüler. Damals gingen nur etwa 10% eines Jahrgangs aufs Gymnasium. Wir auf der Realschule wurden also eher für die Berufsausbildung vorbereitet und da waren die Naturwissenschaften wichtige Fächer.
X: Nach der Realschule haben Sie in Ihrer Heimatstadt Goslar aber doch noch aufs Gymnasium gewechselt und später dann auf Lehramt studiert. Welchen Anteil hatten Pädagogik und das Begeistern und Erreichen junger Leute in diesem Studium?

SG: Also, erstens bin ich ein Kind der Bildungsreform der SPD. Und die ermöglichte uns Mittelschülern, wie man das damals nannte, überhaupt erst den Gang zum Gymnasium. Und eigentlich wollte ich Chemie studieren. Da wurde uns dann aber massiv davon abgeraten, weil es da viel zu viele Studenten gäbe, die würden alle arbeitslos werden. Dann bin ich also Lehrer geworden und als ich fertig war, wurden keine Lehrer eingestellt, dafür suchte man aber Chemiker. Was lernt man daraus? Immer nur das machen, was man selber machen will und nicht auf Berufsberater hören! Am besten das studieren, was gerade nicht en vogue ist, dann hat man ein paar Jahre später gute Chancen. Und zweitens war das damals eine Zeit – das hat sich mittlerweile Gott sei Dank verbessert – in der es praktisch keine pädagogische oder didaktische Ausbildung gab. Ich habe zwar viel über das Versmaß in den Werken von Franz Grillparzer gelernt, aber wie man das pubertierenden Jugendlichen in der Schule nahebringen soll, das hat uns keiner erklärt. Da half mir dann später aber die jahrzehntelange Arbeit in der außerschulischen Jugendarbeit, zum Beispiel bei den Falken.

X: Für Politiker gibt es weder Ausbildung noch Studium. Was macht Ihrer Meinung nach einen guten Politiker aus?

SG: Er muss eigentlich nur zwei Dinge mitbringen: Er muss Menschen mögen und neugierig sein auf das Leben anderer. Wenn man Menschen nicht mag und ihr Leben einen nicht interessiert, soll man die Finger von der Politik lassen.
X: Da gibt es Parallelen zu den Pädagogen, denke ich.

SG: Das kann man schon sagen. Vielleicht gilt das auch für Journalisten: Wenn man Menschen nicht mag, sollte man die Finger vom Beruf lassen.

X: Haben Sie den Schritt in die Politik je bereut, gerade auch, weil es für Spitzenpolitiker, ähnlich wie für Pop- und Filmstars, kaum Privatsphäre gibt und einem ständig Kameras ins Gesicht gehalten werden?

SG: Ja, aber die Leute finde ich am schrecklichsten, die sich erst darum reißen, Ämter zu bekommen und sich dann über die Ämter und die entsprechenden Begleitumstände beschweren. Nein, ich habe diese Wahl nie bereut und ich muss sagen, das waren spannenden Jahre.
X: Das sind doch immer noch spannende Jahre, oder?

SG: Ja, schon. Aber ich bin jetzt nicht mehr in Amt und Würden, ich bin jetzt nur noch Wahlkreisabgeordneter und habe meinen Wahlkreis auch immer direkt gewonnen. Mit 44% für die SPD hier, das ist ein Wahlergebnis, über das sich andernorts viele freuen würden. Und ich fand es auch immer gut, direkt gewählter Abgeordneter zu sein. Also nicht von den Gnaden der Partei und eines entsprechenden Listenplatzes abhängig zu sein. Das bringt Unabhängigkeit und das fand ich immer gut.

X: Wir haben gerade so ein bisschen die negativen Seiten, die der Politikerberuf so mit sich bringt. Aber in den vergangenen Jahren und mit dem Wiedererstarken des Rechtspopulismus ist die politische Kultur im Sinkflug. Beim Pegida-Galgen „reserviert für Siegmar Gabriel“ (der Vorname war auf besagtem Galgen tatsächlich falsch geschrieben – Anmerk. d. Verf.) konnte ich es kaum fassen. Da wurde doch eine Grenze überschritten.

SG: Na, deswegen ist es gut, dass wir den Prozess gegen diesen Menschen gewonnen haben. Und, das mag sich jetzt seltsam anhören, aber solange ich mich politisch engagiere, gab’s und gibt’s immer diese Drohanrufe. Mich persönlich hat das eigentlich nie besonders belastet. Als ich dann Kinder hatte, da war mir dann manchmal ein bisschen sehr unwohl zumute. Was ich an sich viel schlimmer finde als diese Extreme, ist, was sich im Internet abspielt. Wo offensichtlich Menschen kommentieren, die entweder nie eine anständige Erziehung genossen, oder das alles vergessen haben. Ich kenne noch Sätze wie „Das tut man nicht“ oder „Das ist unanständig“ – das scheinen manche gar nicht mehr zu kennen.
X: Wie erklären Sie sich den Zulauf für derartige Rattenfänger und all die munter gestreuten Fake News?

SG: Ach, das hat viele Ursachen und ich will da jetzt auch gar nicht nur über den Rechtsextremismus reden. Erstens enthemmt das Internet ganz offensichtlich. Ich glaube, wenn man sich hinsetzen und einen handschriftlichen Brief schreiben würde, dann würde man sich nicht trauen, das Gleiche zu schreiben, was man da so in die Tasten hämmert und als Post absetzt. Und zweitens glaube ich, dass die Welt in vielem auch ziemlich kompliziert geworden ist. Diese Menschen suchen ihr Heil und ihre Orientierung dann in, wie Sie es gerade sagten, Fake-News. An sich schon völliger Irrsinn und dann findet man im Internet auch zu jeder irren Theorie noch einen Professor, der seinen Namen darunterschreibt.


X: Sie sind oder waren zumindest begeisterter Schachspieler?

SG: Nee. Ich weiß nicht, wo das herkommt.
X: Das habe ich bei der Vorbereitung in einem Interview mit einem Jugendfreund von Ihnen gelesen, der berichtete, dass Sie immer gerne auf dem Spielplatz gesessen und dort Schach gespielt hätten.

SG: Hach, was glauben Sie, wie viele Leute behaupten, Jugendfreunde von mir zu sein? Und hinterher stellt sich dann heraus: Stimmt gar nicht. Ich habe jedenfalls nie Schach gespielt, dafür war ich zu dumm … oder nicht geduldig genug. Ich habe aber immer gerne Fußball gespielt!
X: Ah, ok; auf welcher Position?

SG: Linker Verteidiger – wie heute noch! (lacht)

X: Stichwort Sport: Ist das in der Politik ähnlich, geht man also nach dem Spiel ganz unabhängig vom Parteibuch auch mal gemeinsam einen trinken? Haben Sie Freunde in anderen Parteien?

SG: Gott sei Dank ist das so, ja. Und klar habe ich Freunde in anderen Parteien, genauso wie ich Nicht-Freunde in der eigenen Partei habe.

X: Schon zu Ihrer Zeit als Außenminister richteten Sie recht deutliche Worte gegen Saudi-Arabien. Nach dem Kashoggi-Mord werden die Waffenlieferungen offiziell gestoppt; im Radio habe ich aber vor ein paar Tagen gehört, dass italienische Tochterfirmen deutscher Rüstungsbetriebe aber munter weiter Bomben an Saudi-Arabien liefern. Der Normalbürger fasst sich bei so was entsetzt an den Kopf – wie hält man so was als Politiker aus?

SG: Na ja, erstens weiß ich ja gar nicht, ob das so stimmt. Zweitens, wenn die dafür geltenden Patente in Deutschland liegen, dann dürfen das diese Töchter nicht; dann bedarf es einer Genehmigung in Deutschland. Was sein kann, ist, dass europäische Gemeinschaftsprojekte, wenn Deutschland zum Beispiel Maschinenteile für Flugzeuge nach England oder Frankreich liefert, und dann am Ende die Engländer dieses Flugzeug ausliefern, dann kann das schon sein. Da sind wir eben leider an Europäisches Recht gebunden. Andere europäische Länder sind leider nicht bereit, Saudi-Arabien so strikt von Waffenverkäufen auszunehmen. Ich selber habe schon lange vor dem Fall Kashoggi einen Export gestoppt. Da wollte Frau Merkel mit der alten CDU/FDP-Regierung 250.000 Sturmgewehre liefern lassen. Ich habe das wegen des Krieges im Jemen gegen den Widerstand von Frau Merkel verweigert. Und ich fand es auch falsch, dass dann vor Kurzem wieder so ein Waffendeal angeleiert wurde, nur damit die Saudis wieder einen Botschafter nach Deutschland schicken, was dann alles mit dem Kashoggi-Mord aufgeflogen ist. Das zeigt aber, dass man den Umgang mit solchen Ländern nicht von tagesaktuellen Fragen abhängig machen darf. Es geht grundsätzlich um die Frage, ob solche Länder eigentlich eine Außenpolitik betreiben, die abenteuerlich und gefährlich ist, und wenn das so ist, dann darf man ihnen keine Waffen liefern. Ich habe übrigens nichts dagegen, solchen Ländern Rüstungsgüter zu schicken, die sie für ihre eigene Landesverteidigung brauchen. Ich finde auch, ein Land wie Saudi-Arabien hat das Recht, seine Grenzen, seine Seewege zu schützen. Aber überall dort, wo solche Waffensysteme genutzt werden, um im Jemen, im Irak oder sonst irgendwo eingesetzt zu werden, finde ich, darf man das nicht.
X: Na ja, aber das ist wohl im konkreten Fall schwierig: Man kann die Waffen ja schlecht programmieren und sagen, dass die nur zur Verteidigung …

SG: Oh doch, das kann man. Man kann heute sogar Kleinwaffen so mit Chips ausstatten, das sichtbar ist, wo sie sich befinden – und erst recht kann man so etwas mit Schiffen tun. Wir haben sogenannte Exportkontrollen eingeführt, dass die deutschen Auslandsvertretungen auch das Recht haben zu kucken, ob die Bedingungen, unter denen ein Waffenexport stattgefunden hat, eingehalten werden. Und wir haben den Kleinwaffenexport mittlerweile völlig verboten. Also, man kann schon eine ganze Menge machen, wenn man nur will!
X: Das ist schön zu hören. Man hat ja oft den Eindruck, dass man als Politiker zwar oft hehre Ziele hat, aber wenn dann die Wirtschaft dann mit Arbeitsplätzen und ähnlichen Argumenten winkt, dass diese Interessen dann eben Vorfahrt bekommen.

SG: Und das Schöne ist, dass genau das im Deutschen Gesetz eben drinsteht, dass Arbeitsplätze keine Rolle spielen dürfen. In den deutschen Waffenexport-Richtlinien steht ausdrücklich drin, dass der Erhalt oder die Schaffung von Arbeitsplätzen kein Exportgrund sein darf.

X: Nachdem ich in Bezug aufs Schachspielen ja einer Fehlinformation aufgesessen bin, habe ich etwas Sorge wegen der nächsten Sache, die ich über Sie gelesen habe: Sind Sie Asterix-Fan?

SG: Ja, das stimmt. Also ich war mal Fan. In meiner Kindheit und Jugend habe ich das liebend gerne gelesen; heute lese ich keine Comics mehr. Aber dafür lese ich heute meiner Tochter Bilderbücher vor.
X: Das ist vorbildlich. Darf ich fragen, was denn das Lieblingsbilderbuch Ihrer Tochter ist?

SG: Die Kleine hat so ein Buch mit Tierabbildungen, und wenn man da draufdrückt, sind die dazugehörigen Tiergeräusche zu hören.

X: Weihnachten steht vor der Tür: Wie feiern Sie das Fest, was gibt es zu Essen?

SG: Wir feiern zu Hause mit der ganzen Familie. An Heiligabend gibt es bei uns immer nur ganz einfaches Essen, also Kartoffelsalat und Würstchen und die Gans gibt es dann erst am ersten Feiertag.

X: Herr Gabriel, zum Schluss und passend zum Weihnachtsthema noch die Frage: Welches sind Ihre ganz persönlichen drei Wünsche, wenn Ihnen denn eine Fee welche gewähren würde?

SG: Gesundheit für meine Familie … (überlegt) ein besseres Europa … und weniger Armut auf der Welt!


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